Nicht in die Ferne
Wie wir den Corona-Winter vor der Haustür verbrachten
“Dingenskirchenspitz? Wo soll das denn sein? Nie gehört.” So hätte ich vor diesem Winter auf den seltsamen Namen dieses Berges reagiert. Aber jetzt, als ich bei eisigem Wind über den letzten Aufschwung zu seinem Gipfel kletterte, war er ein echter Höhepunkt für mich. Und wahrscheinlich einer der tollsten Skigipfel, die ich je bestiegen hatte. Glücklich fasste ich an den Gipfelsteinmann und freute mich über eine gelungene Tour, die für mich so gar nicht selbstverständlich war.
Wintersaison mit Einschränkungen
Der Winter 2021 brachte für uns Alle ganz spezielle Herausforderungen: Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Krankheitsfälle in der Familie oder bei Freunden, wirtschaftliche Einbußen. Und für uns Bergsteiger ebenfalls wesentlich: geschlossene Grenzen. Das bedeutete, dass viele Saisonpläne schon früh obsolet wurden. Also keine Skitouren im Sellrain oder in den Dolomiten. Kein Eisklettern im Piztal oder in den Tauern. Und auch keine Nordwände an hohen Alpenbergen. Stattdessen wurden wir auf den kleinen bayerischen Teil der Alpen eingeschränkt.
Bei mir löste das erst einmal Ratlosigkeit aus. Bisher hatte ich Skitouren in Bayern vor allem als Auftakt zu höheren Bergen mit schönerem Skigelände gesehen. Was also nun tun mit der Saison? Welche neuen Ziele könnten die hochtrabenden Pläne ersetzen, die nun nicht mehr umsetzbar waren? Anderen Sektionskollegen ging es genau so. Wohin zum Winterwandern, Eisklettern oder für Mixed-Touren? Überall wurden Führer konsultiert, Karten studiert und Freunde befragt.
Eins wurde dabei schnell klar: Es würde voll werden in den Bergen. Die geschlossenen Grenzen und der Mangel an anderen Freizeitmöglichkeiten sorgten für einen Rekordansturm gerade in den Münchner Hausbergen. Spitzingsee, Lenggries, Garmisch wurden von Münchnern geradezu überrannt. Dass die Einheimischen über lange Staus und falsch parkende Autos verärgert waren, ist nachvollziehbar. Zumal sie in diesem Winter zwar von den Nachteilen des Massenansturms getroffen wurden, das Geschäft mit hungrigen und durstigen Ausflüglern aber größtenteils ausfiel.
Den Frust bekamen einige von uns durchaus zu spüren. Wer mit einem Münchner Kennzeichen anreiste, traf leider immer wieder auf Ablehnung. Das Auto eines Kollegen wurde sogar mit Farbe beschmiert. In der eigenen Heimat nicht mehr willkommen zu sein, war eine erschreckende und traurige Erfahrung.
Winterbergsteigen und Eisklettern
Zurück zum Bergsteigen: Zu Beginn der Saison, als der Schnee noch nicht für Skitouren reichte, versuchten wir uns an anderen Spielarten des Winterbergsteigens. Eine Winterbegehung des Klettersteigs “Hohe Gänge” im Allgäu z.B. entpuppte sich als kaltes und anregendes Vergnügen.
Auch unser Allgäuer Kollege Tim war vor allem in seiner Heimat aktiv. Ihm gelang in der Rubihorn Nordwand mit “Ice on the rocks / Eis am Stiel” (M8) eine echte Hammertour. Die klassische Route (M5) in der selben Wand erledigte er dann später noch seilfrei.
Christoph wiederum schwang die Eisgeräte an den benachbarten Gaisalpfällen. Hier wartet eine breite Auswahl and Eis- und auch eingerichteten Mixedrouten auf den Winterkletterer. So hat sich die Gaisalpe in den letzten Jahren zu einem sehr lohnenden Ausflugsziel entwickelt.
Ähnlich wie an den Gaisalpfällen wurden auch am Heimgarten in den letzten Jahren einige Mixed-Routen erschlossen. Mit meinen Sektionskollegen Armin und Gregor unternahm ich im Januar einen Ausflug dorthin. Meine eigenen Mixed-Fähigkeiten sind überschaubar. Aber Armin und Gregor kletterten einige schöne Routen wie später auch am benachbarten Jochberg, der klassische Eisrinnen bietet. Später verlagerte Gregor sein Aktivität an höhere Berge und führte mit Winterbesteigungen von Kleinem Waxenstein, Wörner und Tiefkarspitze anspruchsvolle alpine Unternehmungen durch.
Skitouren in allen Variationen
Als der Schnee dann kam, waren wir vorbereitet. Der Skitourenklassiker über Hochgrat und Rindalphorn im Allgäu bot für mich einen ersten Höhepunkt in herrlicher Landschaft und mit schönen Abfahrtshängen. Zwei Wochen später führte Tim sogar die gesamte Nagelfluhüberschreitung mit Ski durch. Mit über 2000 Höhenmetern ist das ein echter Konditionshammer und eine für Voralpenverhältnisse erstaunlich großzügige Tour.
Nach diesem Ausflug ins Allgäu verlagerte ich meine Aktivität ins Karwendel. Die Skitour durchs Dammkar kennen wohl die allermeisten Skitourengänger. Ein absoluter Klassiker und gleichzeitig ein landschaftliches Highlight, das bei guten Bedingungen auch Abfahrtsgenuss bietet. Und wir hatten gute Bedingungen: Etwa 10cm frischen Pulver auf der Altschneedecke und dabei – trotz vielen anderen Aspiranten an diesem Tag – noch Platz für ein paar eigene Abfahrtsspuren.
Deutlich weniger bekannt als das Dammkar ist die Schöttelkarrinne in der Soierngruppe. Dolomitenfeeling kam auf, als wir die steile Rinne zwischen schroffen Felsaufschwüngen hinauf gingen. So was steiles, alpines gibt es in der kleinen Soierngruppe? Ich hätte es nicht gedacht. Der Sattel, den wir dann erreichten, war eindrucksvoll: Hinter uns die Steilrinne, vor uns die auch ziemlich steilen Hänge hinab in den Soiernkessel.
In puncto Großzügigkeit kann man in der Soierngruppe noch mal eine Schippe drauf legen mit einer Überschreitung der Soiernspitze. An einem freien Freitag stieg ich allein von der Südseite über die weiten (und ebenfalls skifahrerisch sehr lohnenden) Hänge hinauf zur Soiernspitze. Die Aussicht vom Gipfel war wunderbar und reichte von München bis zu den Gipfeln des Karwendelhauptkamms.
Doch der eigentlich Höhepunkt der Tour stand mir noch bevor. Die Abfahrt durchs nordseitige Soiernkar. 500 Abfahrtshöhenmeter Pulverschnee. So was Gutes bin ich selten gefahren und glücklich kam ich unten an. Da konnte mir auch die Tatsache nicht die Laune verderben, dass ich die 500 Höhenmeter nun auch wieder hoch musste, um zurück zum Auto zu kommen. Der Aufstieg zum Feldernkopf war dann schon zach, aber egal. Heute hatte sich jeder einzelne der knapp 2000 Aufstiegshöhenmeter so was von gelohnt.
Die Sektionskollegen waren ebenfalls fleißig und befuhren anspruchsvolle Klassiker wie Schinderkar oder Kreuzspitze. Christoph nutzte die Gelegenheit, um endlich die Alpspitze ohne Seilbahnunterstützung zu besteigen. Und das gleich zwei Mal! Einmal mit Anstieg über die Nordwand-Ferrata und einmal über die schönen Gänge. Mit deutlich über 2000 Höhenmetern und der Abfahrt durch die 45° steile Ostwand ist das schon großes Skitourenkino. Tim wiederum befuhr die Trettachrinne, eine klassische Steilabfahrt im Allgäu für Freunde von extremem Skigelände. Ja, auch die bayerischen Skiberge können sich sehen lassen.
Entdeckertour als Höhepunkt
Für mich persönlich war die spannendste Unternehmung eine unbekannte Tour im Wetterstein. So unbekannt, dass ich den richtigen Namen des Gipfels öffentlich nicht nennen möchte. Wer sich dafür interessiert, wird es schon finden. Und darf sich darüber freuen, eine Tour zu erkunden, über die man online wie offline kaum Informationen findet.
Zwei Mal war ich dort unterwegs, beim ersten Mal zur Erkundung, beim zweiten Mal mit Gipfel. Es ist eine Tour, die alles bietet: steile Aufstiege, großartige Landschaft, rassige Abfahrten und auch viel Hatscherei. Den Genussskifahrer wird sie nicht ansprechen, eher den Skibergsteiger, der Abwechslung und alpine Umgebung schätzt.
Schlüssel der Tour ist ein Steilaufstieg über ca. 150 Höhenmeter. Mit Ski am Buckel, Steigeisen an den Füßen und Pickel in der Hand hatte das für mich Nordwandatmospähre und entschädigte mich für die entgangenen Ausflüge zu den hohen Bergen der Zentralalpen.
Nach einigen flacheren Hängen und einer weiteren Tragepassage erreichte ich dann den Gipfelaufbau der Dingenskirchenspitze, deren Namen ich erst ein paar Wochen zuvor zum ersten Mal auf der Karte gelesen hatte. Ein unbedeutender Gipfel, dessen Besteigung ich in normalen Jahren nie in Erwägung gezogen hätte. Und der mir nun eine Tour von besonderer Intensität und Abwechslung bescherte.
Das Gute in der Nähe
Die Reisebeschränkungen hatten bei vielen von uns die Kreativität geweckt. Und dass hatte sich ausgezahlt. Durch unbekannte, abenteuerliche Touren und damit verbunden sehr intensive Erlebnisse.
Und wenn wir ehrlich sind, dann können wir uns derzeit glücklich schätzen, dass unser Hobby so pandemietauglich ist. Dass wir im Gebirge Ausgleich finden können für den Frust des andauernden Halb-Lockdowns und der mangelnden sozialen Kontakte. So war es insgesamt ein schwieriger Winter. Der uns aber nebenbei gezeigt hat, dass das Gute manchmal näher liegt als gedacht.
Hannes Gostner, Redakteur
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